Einfach leben, möglichst unkompliziert. Vom wirklichen Leben auch nicht dauernd abgelenkt werden. Du musst dies oder jenes; diese Versicherung oder jene, diesen Urlaub oder jenen, dieses Auto oder jenes, diese Aktion oder jene, diese Ausbildung oder jene, ja, diese Frau oder jene, diese Religion oder jene…
Ich möchte auch kein Leben in nur 160 Zeichen, oder meine Befindlichkeit mal kurz twittern. Mit einem Smiley, das ist übrigens out, versehen oder in facebook von weiteren 60 Leuten geliked.
Ich möchte nicht zugeschüttet werden durch 100 000 Meldungen, was allüberall auf der Welt passiert und doch kaum hier und heute geändert werden kann. Schon gar nicht durch mich allein. Keine täglicher Brennpunkte im TV oder Politikergesichter zu allem und jedem befragt, bis zum Abwinken.
Ich möchte einfach leben. Nicht erst, wenn ich im Ruhestand bin. Und ob ich dann auf der Aida oder im Aktionsbündnis gegen Windenergie einfach leben werde, ist ohne hin noch die Frage. Meine Aussage an alle, die sich soeben falsch verstanden fühlen, der Satz: Ich frage dies ja nur.
Wo alles gelingt der Gedanke, einfach leben zu wollen, unter Einbezug der Überlegungen? Wie gelingt das auf einer Alp im Allgäu, im Stadthaus in Hamburg oder im Bessunger Jagdhofkeller. Wie gelingt das in Sanaa im Jemen, auf den Baustellen der neuen Fußballstadien in Katar und Brasilien…
Wie gelingt das in bis zu 95 Jahren unserer Lebenserwartung, uns der Frau, dem Mann, dem Kind? Dem Geschöpf Gottes? In diese Welt geworfen, gewollt, gezeugt, gefertigt, geliebt und ungeliebt?
Leben, einfach leben?
Vor wenigen Tagen saß Ronja, mein zweijähriges Enkelkind unterm Esstisch. Wir hatten zuvor eine Stunde lang herumgealbert, ich hatte Geschichten vorgelesen, wir waren auf dem Spielplatz gewesen. Jetzt saß sie da und lugte unter dem Tisch hervor. Sie lächelte. Ich fühlte mich angestiftet. Was so ein Lächeln alles bewirken kann.
Ich krabbelte zu ihr. Einfach so, ohne nachzudenken, was die anderen im Raum Befindlichen über mich denken würden.
Welch ein Blick eröffnete sich da: Stuhlbeine, Menschenbeine, Tischbeine, Flusen, Essenskrümel, eine Rosine vom Müsli, Bauklötze, Pixibücher…
Die Welt von unten und da unten ist ganz anders als die Welt oben. Nicht nur der Blick auf sie, sondern alles, was von dort zu hören und zu sehen ist. Das war wie ein Walzer für meine Seele. Ein melodischer Klang, Schwingungen, die mich ergriffen und in immer neue Welten führten. Rhythmisch, wohltuend. Wenn ich die Augen schließe, werden diese wunderbaren Momente wieder lebendig. Ich kann nur sagen. Setzt euch mal wieder unter einen Tisch. Es funktioniert auch ohne Kind.
Die langsamere Welt, die ohne Zweck und Programm, die schier Zeitlose. Die Nachdenkliche, die rückwärts und vorwärts gewandte Welt. Und der Walzer, der nach links und rechts dreht. Womöglich ist es auch witzig, sich immer mal wieder unter einen Tisch zu setzen oder zu legen, um den Rhythmus neu zu finden und sich einzuschwingen. Scheinbar planlos. Vielleicht ganz allein. Und wenn es besonders werden soll, mal jemanden unter den Tisch zu bitten.
Leben. Einfach leben.
Es gibt Leute, bei denen eine alte Lederjacke im Schrank hängt. Abgewetzt, an der einen oder anderen Stelle erneuert. Sie riecht nicht nur nach Leder, sondern auch nach Rauch, Alkohol und Geschichten.
Ältere haben noch den Kamm von damals drin, Jüngere eher ein Requisit vom letzten Rock am Ring. Mancher einer hat irgendein Kraut drin, abgefahrene Buskarten oder so.
Diese Jacke wird nie in einer Altkleidersammlung landen. Altkleidersammlung. Jedenfalls nicht, solange der Besitzer noch lebt. Die Jacke ist Kult, stimmt’s? Vielleicht wird sie sogar von der Tochter oder dem Sohn als Relikt einer besonderen Zeit weiter getragen. Wer weiß.
Die lederne Jacke ist nicht einfach ein Jacke, sondern lebendig gewordenen Beweis für Widerstand, Aufmüpfigkeit und Kontrast zu Bestehenden. Ich zieh sie an und habe das Gefühl, wie Udo Linderberg mein eigenes Ding durchziehen zu können. Eine verborgene Macht durchdringt Leder und Besitzer. Das Leben und sein Rhythmus werden zum Boogie Woogie. Eine Bezeichnung für alle, die versuchen, sich ihre persönliche Freiheit zu nehmen oder bewahren. Einfach leben durch ein bloßes Kleidungsstück? Es scheint zu funktionieren.
Magie? Wohl weniger. Aber das erhabene Gefühl durch die Jahre und damit immer wieder mal neu wie alt, dem Leben einen anderen Rhythmus geben zu können. Deshalb, weil die Mittelmäßigkeit, die nicht tot zu kriegende Volksmusik oder die dauernde Berieselung der Dummmachkanäle nur noch stressen, Zeit stehlen und kaputt machen? Und lautete nicht mal eine Parole aus vergangenen Tagen: Macht kaputt, was euch kaputt macht. Womöglich deshalb Boogie Woogie?
Leben. Einfach leben.
Wie viele Fotos haben sie von sich zuhause oder bei der Arbeit. Meist sind das nur ein Bruchteil unser Fotosammlung, sei sich in digital im PC oder in den vielen Fotoalben in den Regalen. Die meisten Fotos machen wir im Urlaub, dann scheint alles in unserem Leben so wichtig, so intensiv, dass wir bei jeder Kleinigkeit die Kamera oder das Handy zücken und alles festhalten wollen. Den witzigen Hund auf dem großen Platz, den völlig überfüllten Papierkorb mit der Aufschrift, die ich nicht entziffern kann, die Landschaft, die Menschen, der Himmel, die Muschel.
Jeder Stein wird zum Symbol für schönes Leben. jeder Wassertropfen des Eisigen Bergbachs wird zur Kraftquelle und die Wärme des Sandstrandes durchdringt mich und lässt mich Leben spüren.
Warum können wir im Urlaub so viel besser einfach Leben? Was gelingt uns da, was im Alltag nicht klappt?
Es ist der andere Blick auf die Dinge, der Blick, der befreit ist vom Zeitdruck, von der Gleichzeitigkeit der vielen Erwartungen in unserem Alltag. Im Urlaub bin ich viel mehr im Jetzt, im Augenblick, auch dann wenn ich meine Gedanken einfach schweifen lasse. Mir Zeit nehme über mein Leben nachzudenken, sowohl beim mühevollen Aufstieg auf den Gipfel, der mich zwingt mit meinem Atem und mit meinen Worten sparsam umzugehen, damit ich alle Kraft in meine Schritte legen kann, als auch wenn ich mich den Wellen des Meeres hingebe und mich auf ihnen treiben lasse.
Urlaub will Lust machen auf das Leben. Bringt uns mit dem Leben wieder ganz direkt in Verbindung, genauso wie Weihnachten.
Wenn wir es schaffen, uns von unserem Druck frei zu machen und den Augenblick einfach so anzunehmen.
Leben. Einfach leben.
Für jeden ist Lust etwas anderes. Für jeden gibt es womöglich andere Momente, Lust empfinden oder erfahren zu wollen.
Dabei ist sexuelle Lust weit von der entfernt, Lust an der Lösung einer mathematischen Aufgabe zu haben. Lust ist etwas typisch Menschliches. So weit ich weiß, sind Tiere instinktgesteuerter als wir, will es aber bei uns auch nicht ausschließen, dass wir Instinkte haben, die zu einer besonderen Lust führen.
„Ich habe keine Lust“ ist wahrscheinlich ein Satz, den die meisten von uns eher denken als sagen. Das ist bei Kinder und Jugendlichen bestimmt anders.
„Ich habe Lust“ ist womöglich auch nur ein massenhaft gedachter Satz, der ins Chaos bei absoluter Umsetzung führt.
Lust ist schön, führt aber offenbar sofort zu Problemen. Wie schade! Denn wäre sie nicht vorgesehen, wäre das Leben sehr arm. Lust ist etwas Göttliches.
Lust ist die Anziehung, sich im Spiel hinzugeben. Der Kampf um das Zulassen. Sei es um eine Tafel Schokolade oder die Gunst einer schönen Frau. Lust ist Tango. Tango ist Leben.
Einmal in der Woche, das muss schon sein, erzählt der liebe Gott, brauche ich diese Momente.
Das beginnt bereits Stunden vorher. Das Kribbeln, das durch Mark und Bein geht. Die Unruhe, die mich erfasst. Die großen Themen, die mich sonst bewegen, werden Nebensache. Die Anspannung nimmt immer mehr zu.
Einen Tag vorher beginnt es bereits Das ist etwas wahrhaft Göttliches, das ich voll und ganz genieße. Glaubt mir, ruft der liebe Gott laut, dieses Gefühl sollte jeder kennengelernt haben
Ich muss es nicht jeden Tag haben. Es nutzt sich womöglich ab, verliert an Bedeutung. Aber einmal in der Woche: Das ist es:
Ich rede vom Tanzen, fährt der liebe Gott fort, um genauer zu sein: vom Tango tanzen. Dieser Rhythmus, diese Bewegungen, intensiv, fordernd, erotisch, ganz dem Leben zugewandt. Und doch den Tod vor Augen.
Es spielt keine Rolle, wer du bist oder was. Du tanzt. Mit Leidenschaft. Das ist alles. Mit Leidenschaft. Tango, mehr Sinnlichkeit geht nicht. Die verlangsamten Schritte, die Drehungen. Das sich fallen lassen in die Arme des Anderen. Tango ist etwas Körperliches. Ein Stil. Mit Takt, mit viel Takt. Ein Gefühl, an den Händen beginnend und nicht in den Fußzehen endend. Der Tango verlangt nach mehr. Nach Zuwendung, nach Entscheidung. Ob mit Partner oder ohne
Diese Bewegungen halten mich auf ganz feine Art frisch. Und natürlich, er zwinkert, schaue ich denen gerne zu, die den Tango besonders gut beherrschen.
Die, die ihre Schrittwechsel längst verinnerlicht haben, im Tanz ihre Haare herumwerfen und den anderen, wenn sie nicht für sich tanzen, mit Blicken umwerben. Werben fürs Leben.
Da lebt alles in allem. Grund genug, diesen Tanz besonders zu mögen. Und ich, der liebe Gott sagt es mit hochrotem Kopf, tue das wahrhaftig.