Ursula Fricker: Gesund genug
Als ich Ursula Frickers Buch „Gesund genug“ in die Hand nahm, war ich also, nach drei Jahren in Kalifornien, vorbereitet – auch wenn es in Frickers Roman nochmals deutlich extremer zugeht.
Die 1965 in Schaffhausen geborene Autorin nimmt uns mit in eine Schweizer Familie (ihre Familie; dass das Buch autobiographische Züge trägt, gibt sie freimütig zu), die schon lange, bevor es Mainstream wurde, die fleischlose, vollwertige Ernährung verfolgt. Angetrieben durch den Vater, für den die Gesundheit der Familie das oberste Lebensziel ist.
Alles beginnt mit dem Buch „Sonnseitig leben“ des Schweizer Bildhauers und Gesundheitspioniers Rudolf Müller. Das Buch wird für den Vater zur Bibel:
„Alles, was man bisher gemocht und genossen hatte, war in Wahrheit Gift. Schinken und Weißbrot, Schokolade, Gipfeli, Sonntagsbraten, Spaghetti, weißer Reis, Kaffee, Kuchen, Alkohol und Tabak sowieso. Aber leider war nicht nur die landläufige Nahrung vergiftet, sondern auch die Luft. All die Wände und Teppiche mit ihren Ausdünstungen, ganz zu schweigen vom Zigarettenqualm, von den Abgasen der Autos und Fabriken. Alle Welt wollte Alwin Tobler vergiften (…). Lösung? Verzichten. Auf alles. Für die Umwelt, für die Gesundheit. Für ein ewig langes Leben.“
Hellen Hodgman: Gleichbleibend schön
Vor einigen Jahren hatte ich ein Manuskript fertig, für das mein Agent einen neuen Verlag suchte. Zwei Verlage hatten Interesse – und weil mir beide gut gefielen und die Offerten auch ungefähr die gleichen waren, entschied ich mich, das zu tun, was ich am liebsten tue: zu lesen. Zu diesem Zweck ließ ich mir von beiden Verlagen eine Auswahl von Büchern schicken. Eines davon war der Roman „Gleichbleibend schön“ („Blue Skies“ im Original) der Autorin Helen Hodgman.
Von der Autorin gehört hatte ich noch nie, und damit war ich wohl nicht alleine. Denn obwohl Hodgman 1979 den renommierten Somerset Maugham Literaturpreis gewonnen hatte – für ihren Zweitling „Jack and Jill“, eigentlich aber, so glaube ich, verspätet für ihr Debut „Blue Skies“ –, hatte sie als Autorin nie größere internationale Bekanntheit erreicht. Sechs Romane erschienen insgesamt von ihr – davon sind zwei ins Deutsche übersetzt –, bevor ihre bereits früh diagnostizierte Parkinson-Erkrankung sich so verschlechterte, dass sie ab 2001 nicht mehr schreiben konnte. Gut zwanzig Jahre später verstarb sie, mit 77 Jahren, in ihrer Heimat Tasmanien, wohin sie als Jugendliche nach einer Kindheit in England mit ihrer Familie ausgewandert war.
John von Düffel: Das Wenige und das Wesentliche.
Ein Stundenbuch anderer Art hat der Schriftsteller John von Düffel geschrieben – und ein viel beachtetes dazu. Dabei war ein über 200 Seiten laufendes Gedankengedicht sicher nicht etwas, wovon sich Düffels Stammverlag DuMont einen Verkaufsschlager erwartete – Lyrik ist ja angesichts der engen Nische, die sie bedient, ohnehin ein wenig das Schreckgespenst der Verlage. Doch John von Düffel, der seit dreißig Jahren nicht nur als gefragter Dramaturg, sondern auch als erfolgreicher Schriftsteller arbeitet, dessen Oeuvre Romane, Erzählungen, Essays und Theaterstücke umfasst, setzte sein Stundenbuch durch – heute, knapp zwei Jahre nach Erscheinen, liegt es in vierter Auflage vor.
„Das Wenige und das Wesentliche“ ist der Titel des in honiggelbem Leinen gefassten Buches. Und es geht, wie in den Ursprüngen der Gattung, um das richtige Leben. Oder nein: hier würde Düffel widersprechen: „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen. Doch es gibt im Falschen eine richtige Richtung.“ Die Bescheidenheit ist in doppelter Weise Programm des Buches: an keiner Stelle glaubt sein Autor sich im Besitz der Wahrheit, nie kann oder will er uns Lesenden den einen gültigen Weg vorgeben. Aber er nimmt uns mit auf seinen durch Mythen, biblische Geschichten, Alltagsbeobachtungen, Naturbeschreibungen und Erinnerungen führenden Gedankengang, was im Buch seine ganz konkrete Entsprechung findet in einer Wanderung durchs ligurische Hinterland, angefangen zur fünften Stunde, beendet zur achtzehnten Stunde des Tages.
Philip Roth: Jedermann
"Jedermann“, 2006 erschienen, ist einer der letzten Romane von Philipp Roth, jenem amerikanischen Autoren, der 1969 mit Mitte dreißig durch seinen Roman „Portnoys Beschwerden“ unvermittelt ins Rampenlicht nicht nur Amerikas, sondern der literarischen Welt gestoßen wurde.
Überhaupt tragen die meisten Bücher von Philip Roth autobiographische Züge – so auch der Roman „Jedermann“. Er erzählt die Geschichte eines Lebens, wie es normaler nicht sein könnte – und das uns gerade darum in Bann zieht und berührt. Beginnend mit dem Tod des Protagonisten entfaltet sich dessen Vergangenheit – seine Arbeit als Designer in einer Werbeagentur, seine erste unglücklich verlaufende Ehe, der zwei ihm entfremdete Söhne entstammen, die Ehe mit der zweiten, der dritten Frau, die innige Beziehung zu Tochter Nancy, die ihm als einziges seiner Kinder nahesteht.
Er, der vieles falsch und einiges richtig gemacht hat, der liebte, begehrte, neidete und verzieh, und der sich schließlich in eine Einsamkeit manövriert hat, um deren Ursachen er selbst weiß, bleibt durch den ganzen Roman namenlos: er ist das allzu Menschliche par excellence. Und es ist der großen Kunst von Philip Roth geschuldet, dass uns diese Namenlosigkeit nicht auf Distanz hält, sondern im Gegenteil dem Protagonisten ganz nah kommen lässt.
Alice Munro: Ferne Verabredungen
Ich habe kein Talent zum Fan-Sein, aber wenn ich jemals ein Fan von jemandem sein würde, dann von Alice Munro. Sollten Sie sie noch nicht kennen: Sie haben wunderbare Entdeckungen vor sich! Sie werden eintauchen in die Lebensläufe von Frauen, irgendwo in Kanada, weit draußen auf dem Land und mitten in den Städten.
Sie werden ihnen bei ihren ersten Schritten in Richtung Emanzipation folgen, werden mit ihnen zurückblicken auf die Umbrüche in ihren Leben, auf die Männer, die Kinder, die Freundinnen, die sie hatten, Sie werden nach jeder der langen Kurzgeschichten, die so gehaltvoll wie kleine Romane sind, sie gleich nochmals lesen wollen, und Sie werden sich dabei die ganze Zeit fragen, wie Munro das macht: wie sie es hinbekommt, Sie so mitzunehmen in ihren Erzählkosmos, obwohl sie oft nur andeutet, Leerstellen lässt, wenig erklärt, nichts ausbuchstabiert.
Ich weiß nicht, wie oft ich meine Lieblingsgeschichte von ihr - „Der Bär kletterte über den Berg“ - gelesen habe, und immer noch ist mir nicht alles darin ganz klar geworden - es kann passieren, dass mir manchmal eine Überlegung dazu in den Kopf kommt, und dann lese ich sie nochmals und die Uneindeutigkeit bleibt, dabei geht es letztlich nur um eine lange Ehe, an deren Ende die Frau dement wird und sich so aus einer ebenso liebevollen wie unperfekten Beziehung löst.
Annette Mingels
Annette Mingels wurde 1971 in Köln geboren. Sie studierte Germanistik, Linguistik und Soziologie in Frankfurt, Köln, Bern und Fribourg und schloss mit einer Promotion in Germanistik ab.