Weihnachten 2016: Unruhe und Ermutigung

„In einem Alter, in dem Kinder noch kein Zeitempfinden haben, sind sie in der Lage, die göttliche Unendlichkeit zu spüren. Das gibt ihnen Geborgenheit und macht sie furchtlos. Da sie Zeit nicht wahrnehmen, merken sie auch nicht, wie sie verstreicht, und sie halten sich für unsterblich. “
„Du befindest dich jetzt noch im Zauber der Wahrnehmung der grenzenlosen Zeit“, hatte die Großmutter zu Mine gesagt. „Wenn du anfängst zu bemerken, wie die Zeit vergeht, bist du groß geworden.“ (Aus der Einleitung zu Mine Sögüts Buch „Rote Zeit“, in der sie ein Märchen ihrer Großmutter erzählt).
Dieses Zitat, gefunden im bemerkenswerten Buch Can Dündars „Lebenslang für die Wahrheit“ (2016), lässt mich nicht ruhen. Er schreibt nämlich: “ Diese Zeilen las ich unter der Treppe einer stillen Zuchthauszelle, eingewickelt in eine Wolldecke aus dem Inventar, und fühlte mich im „Zauber der Wahrnehmung der grenzenlosen Zeit“. Der entsetzliche Wettlauf mit der Zeit war draußen vor dem großen Tor (Anm: seines Gefängnisses in Silivri 2015) geblieben. Ich war wieder Kind. geborgen. Furchtlos.“
Was mich zudem bewegt, ist der vor allem der Satz: „Die Starken sind nicht immer im Recht, aber wer im Recht ist, ist immer stark.“
Der Mann, Chefredakteur der türkischen Zeitung Cumhuriyet, wurde im November 2015 verhaftet. Ihm wird Spionage und Verrat von Staatsgeheimnissen vorgeworfen. Sein „Vergehen“: Er hat die Waffenlieferung des türkischen Geheimdienstes nach Syrien aufgedeckt. Staatspräsident Erdogan stellt persönlich Strafanzeige und fordert lebenslange Haft. Nach drei Monaten kommt Can Dündar vorläufig frei. Dann wird er in erster Instanz zu fünf Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt. Vor dem Gerichtgebäude wird auf ihn geschossen, der Attentäter beschimpft ihn als Vaterlandsverräter. Can Dündar überlebt, weil seine Frau den Attentäter zur Seite reißt.
Can Dündar kämpft für Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei. Im Grunde für Presse- und Meinungsfreiheit generell. Wenn auch in der Türkei in einem besonders schweren Fall und einer unvergleichlichen Situation. Fast naiv wie ein Kind sich im Recht wissend. Zurzeit ist dort das große Verschweigen angesagt. Die Opposition wird beseitigt, Menschen inhaftiert, Unbeugsame aus dem Verkehr gezogen. Angst regiert. Nicht einmal beim Friseur oder auf der Straße wird noch politisch geredet. Das Regime regiert ins Denken, Handeln und Fühlen hinein.
Can Dündar als Vorbild für engagiertes Leben und Verhalten? Auf jeden Fall. Einer der sagt und lebt: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“ Schon mal gehört?
An Weihnachten also bitte nicht vergessen: Can Dündar, aber auch meine eigene Haltung zu Populismus oder Vereinfachern. Es muss nicht immer Jesus als einziges gutes Bespiel herhalten.
In diesem Sinne: Bleibt mutig und behütet!